Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 10. Februar 2022 (Az. C-485/20) den Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderung zusätzlich gestärkt und sich für erweiterten Schutz ausgesprochen, der bereits während der Probezeit bestehen soll. Demnach sollen Arbeitgeber bei Kündigungen von Menschen mit Behinderung – auch während der Probezeit – künftig prüfen müssen, ob der oder die Arbeitnehmende auch auf einer anderen freien Stelle im Unternehmen weiterbeschäftigt werden kann. Dies könnte auch auf das deutsche Arbeitsrecht nicht unerhebliche Auswirkung haben.
1. HINTERGRUND
Schwerbehinderte Arbeitnehmende werden in den meisten Rechtsordnungen und auch im deutschen Kündigungsschutzrecht besonders geschützt. Auf europäischer Ebene legt etwa die Richtlinie 2008/78/EG einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fest. Danach sind u.a. „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten.
In Deutschland ist zusätzlich zu den allgemeinen Kündigungsschutzvorschriften etwa eine vorherige Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung erforderlich. Diese wird nur erteilt, wenn kein Zusammenhang zwischen der Kündigung und der Schwerbehinderung besteht. Der Zustimmungsvorbehalt gilt aber grundsätzlich nicht während der Probezeit. In dieser Zeit sollen sich die Arbeitsvertragsparteien kennenlernen und sich ohne große Hindernisse wieder aus dem Arbeitsverhältnis lösen können. Dies soll auch – und gerade auch – für Schwerbehinderte gelten, um die Hürde für die Einstellung von schwerbehinderten Arbeitnehmenden abzusenken.
In Belgien hatte sich nun ein Gericht mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Arbeitgeber damit umzugehen haben, wenn bei Arbeitnehmenden während der Probezeit eine Schwerbehinderung erkannt wird und die vertraglich geschuldete Tätigkeit aus diesem Grund nicht mehr ausgeübt werden kann.
Nach aktuell geltendem deutschen Recht könnte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis durch eine Probezeitkündigung nach Mitteilung an das Integrationsamt ohne weitere Voraussetzungen kündigen.
2. DER SACHVERHALT
In dem vom EuGH zu entscheidenden Fall wurde bei einem Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung von Schienenwegen noch während seiner Probezeit ein Herzproblem diagnostiziert, woraufhin er einen Herzschrittmacher erhielt. Da das Gerät sensibel auf elektromagnetische Felder reagierte, welche z.B. in Gleisanlagen auftreten, wurde der Kläger aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt, die Funktionen, für die er ursprünglich eingestellt worden war, zu erfüllen. Zunächst wurde er innerhalb des Unternehmens als Lagerist weiterbeschäftigt.
Letztlich hat der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis jedoch beendet, da es dem Arbeitnehmer endgültig völlig unmöglich war, die Aufgaben zu erfüllen, für die er eingestellt worden war. Dagegen ist der Arbeitnehmer vorgegangen.
Der belgische Staatsrat („Conseil d’État“), der mit dem Fall betraut war, hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Erläuterungen zur Auslegung der Richtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG), insbesondere zur Auslegung des Begriffs „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“, ersucht. Konkret wollte der belgische Staatsrat wissen, ob daraus für den Arbeitgeber eine Verpflichtung hervorgeht, die Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz im Unternehmen anzubieten.
3. DAS URTEIL DES EUGH
Mit Urteil vom 10. Februar 2022 entschied der EuGH nun, dass der Begriff der „angemessenen Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ dahin zu verstehen sei, dass Arbeitnehmende mit Behinderung auf einer anderen Stelle einzusetzen sind, für die sie die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweisen, wenn aufgrund der Behinderung die wesentlichen Funktionen der bisherigen Stelle nicht mehr erfüllt werden können. Dies gelte auch während der Probezeit. Zu beachten sei jedoch, dass die zu ergreifenden Maßnahmen nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung des Arbeitgebers führen dürfen. Zu berücksichtigen sollen dabei der finanzielle Aufwand sowie Größe, finanzielle Ressourcen und Gesamtumsatz des Arbeitgebers sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Mittel oder anderer Unterstützungsmöglichkeiten sein.
Die Richtlinie solle einen allgemeinen Rahmen schaffen, um Gleichbehandlung „in Beschäftigung und Beruf“ zu gewährleisten, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen biete. Dafür müsse sichergestellt sein, dass auch Arbeitnehmende, welche nach ihrer Einstellung zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolvieren, geschützt werden. Die Bestimmung sei bewusst weit gefasst, sodass auch Arbeitnehmende erfasst sind, die zum Zeitpunkt der Entlassung noch keine endgültig eingestellten Bediensteten sind.
4. AUSWIRKUNGEN FÜR DAS DEUTSCHE RECHT
In Deutschland hat sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden, schwerbehinderten Arbeitnehmenden während der Probezeit noch keinen Sonderkündigungsschutz zuzugestehen. Damit sollen die Hürden für Arbeitgeber herabgesetzt werden, schwerbehinderte Menschen einzustellen.
Dem steht das aktuelle EuGH-Urteil jedenfalls teilweise entgegen. Inwiefern das Urteil des EuGH umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Es liegt aber nahe, dass die deutschen Arbeitsgerichte künftig von Arbeitgebern erwarten, auch bei Probezeitkündigungen zu prüfen, ob der oder die (schwer-)behinderte Arbeitnehmende auf einer anderen Position eingesetzt werden kann. Hierfür können unter Umständen sogar Umschulungen und Fortbildungen erforderlich sein, sofern dies zu keiner unverhältnismäßigen Belastung des Arbeitgebers führt.
Die Hürden bei der Einstellung schwerbehinderter Menschen würden aus Sicht des Arbeitgebers wieder steigen. Der erweiterte Kündigungsschutz könnte die Bereitschaft zur Einstellung schwerbehinderter Menschen sinken lassen.
Denkbar wäre, die Arbeitsverträge zunächst nur befristet abzuschließen, etwa für die Dauer von sechs Monaten, um die Anforderungen an eine Probezeitkündigung bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen zu umgehen. Allerdings könnte dies diskriminierend sein – jedenfalls, wenn Arbeitgeber nur mit schwerbehinderten Arbeitnehmenden eine solche Befristung vereinbaren.
Ob die Entscheidung des EuGH schwerbehinderte Arbeitnehmende letztlich wirklich besser schützt, bleibt demnach offen.