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Erschütterung des AU-Beweiswertes bei passgenauer Krankschreibung
Friday, March 15, 2024

Folgt auf die Kündigung des Arbeitgebers die Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die den Zeitraum bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses passgenau abdecken, kann deren Beweiswert erschüttert sein. Das BAG setzt in seinem jüngst veröffentlichten Urteil vom 13. Dezember 2023 (Az. 5 AZR 137/23) seine zur Arbeitnehmerkündigung ergangene Rechtsprechung fort und akzeptiert die Erschütterung unabhängig von der kündigenden Partei und der Anzahl vorgelegter Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Verlangt der Arbeitnehmer trotz Erschütterung des Beweiswertes Entgeltfortzahlung, trägt er die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.

1. HINTERGRUND

Am 2. Mai 2022 sprach die Beklagte, ein Unternehmen im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, gegenüber dem bei ihr angestellten Kläger die ordentliche Kündigung mit Wirkung zum 31. Mai 2022 aus. Zugegangen war die Kündigung am Folgetag, dem 3. Mai 2022. Mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 2. Mai 2022 meldete sich der Kläger zunächst bis zum 6. Mai 2022, mit Folgebescheinigungen vom 6. und 20. Mai 2022 anschließend bis zum 31. Mai 2022 ununterbrochen arbeitsunfähig krank. Unmittelbar im Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nahm der Kläger zum 1. Juni 2022 seine neue Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber auf. Mit seiner Klage machte der Kläger die Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 2. bis zum 31. Mai 2022 geltend, die die Beklagte zuvor wegen der zeitlichen Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeit und Kündigungsfrist verweigert hatte.

2. DIE ENTSCHEIDUNG

Während die Vorinstanzen der Klage vollumfänglich stattgaben, ist nach dem BAG zu differenzieren. Soweit die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 2. Mai 2022 vor Ausspruch der Kündigung und ohne Kenntnis des Klägers über die Kündigungsabsichten der Beklagten vorgelegt worden ist, genüge sie zur Darlegung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Dem Kläger stehe daher für diesen Zeitraum der geltend gemachte Entgeltfortzahlungsanspruch zu.

Anders verhalte es sich für den Zeitraum zwischen dem 7. und 31. Mai 2022. Die zeitliche Koinzidenz zwischen vermeintlicher Arbeitsunfähigkeit und Auslaufen der Kündigungsfrist sei geeignet, den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigungen zu erschüttern. Dabei sei unerheblich, dass die Kündigung durch den Arbeitgeber ausgesprochen worden ist, zuvor eine berechtigte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegen hat und der Zeitraum nicht mittels eines Attests, sondern durch zwei Folgebescheinigungen abgedeckt worden ist. Letzteres resultiere bereits im Wesentlichen aus der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, die eine Krankschreibung für in der Regel zwei Wochen, maximal jedoch für vier Wochen, zulässt. Insbesondere bei längeren Kündigungsfristen wäre andernfalls eine Erschütterung des Beweiswerts regelmäßig ausgeschlossen, da sie mithilfe einer einzigen Bescheinigung nicht zu erfassen wären. Die plötzliche Genesung und Tätigkeitsaufnahme beim neuen Arbeitgeber zum 1. Juni 2022 bei zuvor passgenauer Verlängerung begründe daher Zweifel an den ärztlichen Bescheinigungen und führe zur Erschütterung deren Beweiswerte.

Gleichwohl bedarf es stets einer einzelfallbezogenen Würdigung der Gesamtumstände. So sei ein Indiz gewesen, dass die ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jeweils zu einem Freitag, davon abweichend die letzte exakt zum 31. Mai 2022, einem Dienstag, ausgestellt worden sind.

An den Vortrag des Arbeitgebers dürften keine allzu großen Anforderungen gestellt werden. Da ihm naturgemäß eine Kenntnis über Art und Ausmaß etwaiger Erkrankungen verwehrt ist, habe er keine Tatsachen darzulegen, die das Gegenteil beweisen, sondern lediglich Zweifel begründen. Ist der Beweiswert erschüttert, entfällt zwar nicht automatisch der Entgeltfortzahlungsanspruch. Den Kläger treffe in diesem Fall jedoch die volle Darlegungs- und Beweislast zur Geltendmachung seines Entgeltfortzahlungsanspruchs gemäß § 3 EFZG.

3. FAZIT

Bereits im Jahr 2021 sprach sich das BAG im Fall der Arbeitnehmerkündigung für die Erschütterung des Beweiswertes bei passgenauer Krankschreibung aus. Dass es diese Rechtsprechung nun fortsetzt und eine Beweiswerterschütterung unabhängig von der kündigenden Partei und der Anzahl an Krankschreibungen zulässt, ist begrüßenswert. Arbeitgeber sind häufig nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen überprüfen zu können. Nach zutreffender Ansicht des BAG lassen sich Zweifel bereits anhand äußerlicher Ungereimtheiten begründen, betreffen die Kenntnisse doch im Wesentlichen die Sphäre des Arbeitnehmers.
Offen bleibt allerdings, ob zur Annahme der zeitlichen Koinzidenz zwingende Voraussetzung ist, dass das ärztliche Attest explizit bis zum letzten Tag des Arbeitsverhältnisses ausgestellt sein muss oder ob eine zeitliche Koinzidenz ebenfalls anzunehmen ist, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung über den Beendigungszeitpunkt hinausgeht. Denn selbst wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hierüber hinausginge, schließt dies eine „passgenaue“ Gesundung nicht aus. Eine Tätigkeitsaufnahme wäre trotz existierender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zum 1. Tag nach Beendigung faktisch möglich, ohne dass der bisherige Arbeitgeber davon Kenntnis erlangen würde. Mit dieser Frage hatte sich das BAG vorliegend nicht zu befassen. Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit es seine Linie zur Erschütterung des Beweiswertes von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zukünftig fortsetzen wird.

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