1. DIE AUSGANGSLAGE – ENTSCHEIDUNG DES EUGH ZUR ARBEITSZEITERFASSUNG
Nachdem der EuGH im Jahr 2019 (Urteil vom 14. Mai 2019 – C-55/18 Federación de Servicios de Comisiones Obreras/Deutsche Bank SA) entschieden hatte, dass die Mitgliedsstaaten aufgrund der Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) dazu gehalten sind, Unternehmen dazu zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, war die Verunsicherung in den Unternehmensführungsebenen erst einmal groß. In der gesetzgeberischen Praxis kühlt sich die erste Aufregung dann erwartungsgemäß ab. Obwohl seit der Entscheidung inzwischen fast drei Jahre vergangen sind, hat sich bis heute an der Rechtslage in Deutschland nichts geändert, was wohl auch an der parlamentarischen Covid 19 Vollauslastung der letzten Jahre liegt.
Bis zu einer Neuregelung des Arbeitszeitgesetztes bleiben die Folgen daher überschaubar. Das hat eine jüngst ergangene Entscheidung des BAG vom 4. Mai 2022 (PM zu 5 AZR 359/21) gezeigt. Aufgrund einer wohl zu viel beachteten Entscheidung des Arbeitsgerichts Emden aus dem Jahr 2020 (Urteil vom 9. November 2020 – 2 Ca 399/18) hatte sich das BAG mit der Frage auseinander zu setzen, ob die zur Arbeitszeitrichtlinie ergangene Entscheidung des EuGH auch Auswirkungen auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess hat, vereinfacht gesagt: Es geht darum, ob die (durch den EuGH geprägten) Vorgaben zur Erfassung der Arbeitszeit Folgen für die Frage haben, was Beschäftigte im Prozess für eine Überstundenvergütung darlegen müssen. Das wird interessant, wenn es Streit gibt, ob und welche Überstunden Arbeitnehmer:innen geleistet haben. Im Streit geht es oft darum, ob das Unternehmen diese Überstunden angeordnet, geduldet oder wenigstens gebilligt hat, was Voraussetzung für die entsprechende Vergütung ist. Typischerweise entsteht der Streit anlässlich der Beendigung, wenn Arbeitnehmer:innen die (eigene) Überstundendokumentation aus der Schublade holen und in die Waagschale des „Beendigungspakets“ legen.
2. DAS PROBLEM – ENTSCHEIDUNG DES ARBEITSGERICHTS EMDEN ZUR ÜBERSTUNDENVERGÜTUNG
Das Arbeitsgericht Emden hatte insofern (wiederholt) vertreten, dass aufgrund der Entscheidung des EuGH für Unternehmen nach § 618 BGB bzw. § 241 Abs. 2 BGB die Pflicht bestehe, geleistete Arbeitszeit mit einem den Vorgaben des EuGH entsprechenden Arbeitszeiterfassungssystem zu erheben. Mangels einer solchen Dokumentation, müsse die bisher geltende Darlegungs- und Beweislast modifiziert werden. Arbeitnehmer:innen sollten in einem Überstundenvergütungsprozess dann nur noch vortragen müssen, dass Arbeitszeiten geleistet wurden, die über die vertraglich vereinbarte oder tarifliche Arbeitszeit hinausgeht. Eine Anordnung, Billigung oder Duldung durch das Unternehmen sei nicht mehr erforderlich, wenn sich das Unternehmen aufgrund eines Arbeitszeiterfassungssystem Kenntnis von erbrachten Überstunden hätte verschaffen können. Eine positive Kenntnis der Überstunden sei dann nicht erforderlich.
Besonders interessant bei dieser Entscheidung war, dass in dem vom Arbeitsgericht zu entscheidenden Fall sogar ein Arbeitszeiterfassungssystem bestanden hatte. Der klagende Arbeitnehmer konnte sich aufgrund seiner Tätigkeit als Kurierfahrer jedoch lediglich morgens im System anmelden und abends nach Ende der Arbeit wieder abmelden. Das System erfasst also lediglich Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, ohne Auskunft darüber zu geben, ob und in welchem Umfang in der Zwischenzeit tatsächlich Arbeitszeit angefallen war. Genau hierum drehte sich dann auch der geführte Rechtsstreit, in dem der Kläger die vom Arbeitszeiterfassungssystem generierten Stundenzettel als Beweis für die von ihm erbrachten Arbeitszeiten vorlegte. Er behauptete, dass aufgrund der Arbeitsbelastung keine Möglichkeit für ihn bestanden habe, Pausen zu nehmen; sämtliche aufgeführten Stunden stellten somit vergütungspflichtige Arbeitszeit dar. Die danach geleisteten Überstunden seien entsprechend zusätzlich zu entlohnen. Da die Beklagte lediglich behauptete, der Kläger habe Pausen genommen, ohne einen Gegenbeweis zu erbringen, reichte dem Arbeitsgericht der klägerische Vortrag aus, um der Klage auf Überstundenvergütung stattzugeben.
3. DIE ENTWARNUNG – ENTSCHEIDUNG DES BAG VOM 4. MAI 2022
Zwar mag man die entwickelten Grundsätze zur Darlegungs- und Beweislast in Überstundenvergütungsprozessen und die doch recht hohen Hürden für Arbeitnehmer:innen für nicht interessengerecht halten. Die Entscheidung des EuGH ist jedoch nicht – wie vom Arbeitsgericht Emden vertreten – geeignet, diese grundlegend in Zweifel zu ziehen. Das Arbeitsgericht stellte nämlich auf eine schuldhaft unterlassene Anpassung der Arbeitszeiterfassung ab, die im Prozess mit einer dem Zivilprozessrecht fremden Vortragslastverteilung sanktioniert wurde. Wer es als Unternehmen unterlässt, die Arbeitszeiterfassung so einzustellen, dass der Vortrag zu den geleisteten Überstunden substantiiert bestritten werden kann, darf eben nicht mehr bestreiten. Rechtlich begründbar war das nicht.
Zu Recht hat das BAG die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts nicht geteilt. Die Entscheidung des EuGH hat schon deshalb keine Bedeutung für die Überstundenvergütung, da es bei der Arbeitszeitrichtlinie nicht um den Vergütungsanspruch geht, sondern um Arbeitszeit als Arbeitsschutz (EuGH, Urteil vom 21. Februar 2018 – C-518/15 Ville de Nivelles/Rudy Matzak). Auch eine dahingehend Regelungskompetenz für den europäischen Gesetzgeber würde letztlich fehlen.
Nach bereits abändernder Entscheidung in der Berufungsinstanz (LAG Niedersachsen, Urteil vom Mai 2021 – 5 Sa 1292/20) war die Entscheidung des BAG daher zu erwarten und im Ergebnis nur konsequent. Das BAG grenzt die Arbeitszeit im arbeitszeitschutzrechtlichem von der Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne ab. Die Qualifikation einer bestimmten Zeitspanne als Arbeitszeit im Sinne des gesetzlichen Arbeitszeitschutzrechts führt daher nicht zwingend zu einer Vergütungspflicht, wie umgekehrt die Herausnahme bestimmter Zeiten aus der Arbeitszeit nicht die Vergütungspflicht ausschließen muss (BAG, Urteil vom 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17; 21. Dezember 2016 – 5 AZR 362/16; 12. Dezember 2012 – 5 AZR 355/12).
4. DIE KONSEQUENZ – GRUNDSÄTZE IM ÜBERSTUNDENVERGÜ-TUNGSPROZESS
Trotz der Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2019 bleibt auch bei Überstundenvergütungsprozessen daher alles beim Alten und es gelten weiterhin die nach ständiger Rechtsprechung des BAG entwickelten Grundsätze. Demnach ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Geltendmachung von Überstundenvergütung nicht nur, dass Arbeitnehmer:innen Überstunden geleistet haben, die über die vertraglich vereinbarte oder tarifliche Arbeitszeit hinausgeht, vielmehr müssen Überstunden vom Unternehmen (konkludent) angeordnet, gebilligt, geduldet oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit notwendig gewesen sein. Arbeitnehmer:innen trifft dahingehend die Vortrags- und im Fall des Bestreitens die Beweislast.
Danach müssen Arbeitnehmer:innen, sofern es um die Anordnung geht, vortragen, wer, wann und auf welche Weise Überstunden angeordnet hat. Konkludent werden Überstunden angeordnet, wenn Arbeitnehmer:innen Arbeit in einem Umfang zugewiesen wird, die unter Ausschöpfung der persönlichen Leistungsfähigkeit nur durch die Leistung von Überstunden zu bewältigen ist. Allein die Anwesenheit der Arbeitnehmer:innen am Arbeitsort begründet nicht die Vermutung, die Überstunden seien notwendig gewesen. Die Billigung beinhaltet die Anerkennung vorher geleisteter Überstunden, d.h. das Unternehmen muss zu erkennen geben, es sei mit diesen Überstunden einverstanden gewesen (bspw. durch Abzeichnung von Überstunden). Unter Duldung wiederum ist zu verstehen, dass das Unternehmen von den Überstunden weiß und keine Vorkehrungen trifft, sie zu unterbinden, sondern vielmehr weiterhin entgegennimmt (vgl. hierzu allg.: BAG, Urteil vom 10. April 2013 – 5 AZR 122/12).
Anders als vom Arbeitsgericht Emden vertreten, bedeutet dies im Ergebnis daher, dass lediglich von einem Unternehmensrepräsentanten abgezeichnete Zeiterfassungsbögen ein Streitlosstellen von Überstunden bedeutet. Das gilt dann aber auch unabhängig davon, welchem Zweck diese Zeiterfassungsbögen dienen. Damit ist in einem Überstundenprozess jedoch nicht der Nachweis des Unternehmens ausgeschlossen, dass die abgezeichneten Arbeitsstunden tatsächlich nicht wie festgehalten geleistet wurden. Das Unternehmen muss im Rahmen der abgestuften Darlegungslast jedoch substantiiert erwidern, dass, aus welchen Gründen und in welchem Umfang die abgezeichneten Arbeitsstunden nicht geleistet wurden oder sich der behauptete Saldo durch konkret darzulegenden Freizeitausgleich vermindert hat (BAG, Urteil vom 26. Juni 2019 – 5 AZR 452/18)
5. DER AUSBLICK – BEDEUTUNG DER EUGH ENTSCHEIDUNG
In Unternehmensführungsebenen kann daher vorerst aufgeatmet werden. Eine fehlende oder unzureichenden Arbeitszeiterfassung im Sinne der Arbeitszeitrichtline bedeutet kein gesteigertes Risiko aus vergütungsrechtlicher Perspektive. Das heißt jedoch nicht, dass die inzwischen von den wohl meisten Unternehmen eingeführte Arbeitszeiterfassungssysteme überflüssig wären. Denn obwohl nach den Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer:innen nur zu erfassen haben, sofern die gesetzlich vorgesehen werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden überschritten wird und davon abgesehen nur bspw. im Mindestlohngesetz (MiLoG) spezialgesetzlichen Aufzeichnungspflichten bestehen, bleibt das Urteil des EuGH bestehen und der deut-sche Gesetzgeber damit verpflichtet, aus arbeitsschutzrechtlicher Perspektive Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung auf nationaler Ebene zu implementieren.
Wie dies letztlich geschehen wird, ist derzeit allerdings weiterhin offen. Der Koalitionsvertrag der derzeitigen Ampel-Regierung enthält dahingehend keine konkreten Aussagen. Nach dessen Wortlaut soll vielmehr lediglich im Dialog mit den Sozialpartnern geprüft werden, welchen Anpassungsbedarf man angesichts der Rechtsprechung des EuGH sieht, wobei flexible Arbeitszeitmodelle, wie bspw. Vertrauensarbeitszeit, weiterhin möglich bleiben sollen.
Dennoch hat zuletzt im Februar 2022 das Bundesministerium für Arbeit- und Soziales ei-nen Referentenentwurf vorgelegt, der für bestimmte Branchen sogar eine Pflicht zur digitalen Arbeitszeiterfassung aller Arbeitszeiten vorsah. Auch wenn dieser Entwurf nach koalitionsinterner Kritik zunächst wieder zurückgezogen wurde, zeigt dies wie weitgehend die Arbeitszeiterfassung in Deutschland künftig ausgestaltet sein kann. Vollkommen ausgeschlossen ist dabei auch nicht, dass sich am Ende doch Änderungen im Hinblick auf die Vergütung von Überstunden ergeben können. Dies wäre dann jedoch allein Folge eines (überschießenden) nationalen Umsetzungsaktes und nur mittelbar auf die Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2019 zurückzuführen.